Mit zwei Beschlüssen vom 6.11.2019 (1 BvR 16/13 und 1 BvR 276/17, NJW 2020, Seiten 301 ff. und 314 ff.) nahm das Bundesverfassungsgericht kürzlich Stellung zu Löschungsansprüchen gegen Online-Dienste.
Im ersten Fall („Recht auf Vergessen I“) machte der Beschwerdeführer einen Unterlassungsanspruch gegen die Spiegel-Online GmbH geltend. Er verlangte einen erschwerten Zugang zu drei Artikeln aus dem Jahr 1982, die sich mit seiner rechtskräftigen Verurteilung als Mörder beschäftigten. Diese Artikel konnten seit 1999 im Archiv von Spiegel Online kostenlos und ohne Zugangssperre von jedermann heruntergeladen werden und erschienen deswegen regelmäßig unter den ersten Treffern bei der Namenssuche in Suchmaschinen. Im Jahr 2002 wurde der Beschwerdeführer nach Verbüßung seiner Freiheitsstrafe aus der Haft entlassen. 2009 erhielt er erstmals Kenntnis von der Online-Veröffentlichung und reichte daraufhin Klage ein.
Das Gericht gab der Verfassungsbeschwerde statt und begründete das mit dem Persönlichkeitsschutz des Betroffenen aus Artikel 2 GG, der wegen der Schwere des Eingriffs in seine Privatsphäre in diesem Fall höher zu bewerten war als das Grundrecht auf Meinungsfreiheit.
Im zweiten Fall („Recht auf Vergessen II“) verlangte die Beschwerdeführerin von Google die Löschung eines Links zu einem Bericht in der Fernsehsendung „Panorama“ aus dem Jahr 2010, in dem unter dem Titel „Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ der Beschwerdeführerin eine unfaire Behandlung ihrer Mitarbeiter vorgeworfen wurde.
Diese Verfassungsbeschwerde wies das Gericht ab. Hier stellte es das Grundrecht der Meinungsfreiheit über das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf informationelle Selbstbestimmung.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht – was auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag - mit diesen beiden Beschlüssen einen Mörder (der aber seine Strafe verbüßt hat) positiv und andererseits eine Arbeitgeberin, die „nur“ ihre Mitarbeiter unfair behandelt hat, negativ bescheidet: In beiden Fällen sind die Begründungen der Beschlüsse, die jeweils auf sorgfältigen Interessenabwägungen beruhen, gut nachvollziehbar: Für den Straftäter, der seine Strafe abgesessen hat und in das normale Leben zurückkehren will, ist die Allgegenwärtigkeit seiner (verbüßten) Tat im Internet ein nicht zu überwindendes Hindernis bei seiner Persönlichkeitsentwicklung. Dagegen muss die „unfaire“ Arbeitgeberin die negative Berichterstattung über sich hinnehmen, weil sie das nicht existentiell tangiert und weil sonst die Meinungsfreiheit unverhältnismäßig tangiert wäre.
Was aber an den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts aus juristischer Sicht wirklich so aufregend ist, dass in der Kommentarliteratur (Kühling, NJW 2020, Seiten 275 ff.) von einer „Novemberrevolution für die Grundrechtearchitektur“ die Rede ist, das ist folgendes:
Bei der Überprüfung und Abwägung von Grundrechten, die in beiden Fällen ja im Mittelpunkt steht (Meinungsfreiheit versus Recht auf Persönlichkeitsentfaltung und informationelle Selbstbestimmung), greift das Gericht im sogenannten „unionsrechtlich überformten“ Bereich auf die EU-Charta der Grundrechte zurück. Das betrifft diejenigen Normen im jeweils nationalen Recht der Mitgliedsstaaten der EU, die nicht speziell in Umsetzung einer Richtlinie („unionsrechtlich determiniert“) erlassen worden sind, die aber wegen der fortgeschrittenen Harmonisierung des EU-Rechts richtlinienkonform auszulegen sind. Hier sieht sich das Bundesverfassungsgericht in doppelter Hinsicht als Garant eines effektiven individuellen Grundrechtsschutzes: Bei der Überprüfung der Anwendung von Unionsrecht greift das Gericht nicht auf die Grundrechte des Grundgesetzes zurück, denn diese wären wegen des Vorrangs von EU-Recht und Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht anwendbar. Vielmehr wird auf die Grundrechte der EU-Charta abgestellt, und zwar unter Beachtung der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs. Im nicht durch Unionsrecht determinierten innerstaatlichen Recht bleibt es dagegen bei der Anwendung des Grundgesetzes. Damit ist in beiden Bereichen ein effektiver Grundrechtsschutz für den einzelnen EU-Bürger gewährleistet (Kühling, a.a.O., Seite 279).
Und die Charta der Grundrechte der EU wird damit aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts erheblich aufgewertet. Denn die Charta bekommt durch die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene unmittelbare Anwendung eine Bedeutung auch für die einzelnen Unionsbürger, während sie bisher nur für das Handeln der Mitgliedsstaaten unmittelbar und für das deutsche Verfassungsrecht nur mittelbar galt.
Da die Grundrechte der EU-Charta gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes durchaus einige Erweiterungen bieten, kann diese neue Rechtsprechung möglicherweise auch auf anderen Rechtsgebieten noch fruchtbar werden. So erweitert zum Beispiel Artikel 14 EU-Charta die Rechte der Unionsbürger auf dem Gebiet der Bildung erheblich gegenüber Artikel 7 GG. Denn Artikel 14 EU-Charta enthält:
- das Recht auf Bildung,
- das Recht auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung,
- das Recht auf unentgeltlichen Zugang zum Pflichtschulunterricht und
- das Recht von Eltern, die Unterrichtung ihrer Kinder u.a. auch entsprechend ihrer erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen.
Das sind alles Grundrechte, die es im Grundgesetz nicht gibt.
Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann also (auch für ganz andere Rechtsgebiete als das der informationellen Selbstbestimmung) sehr interessant werden!
Ingo Krampen, Rechtsanwalt, Notar und Mediator